Znakolog: Projekt und Programm

(aus: Znakolog 1, 1989)


Mit [...] Znakolog wollen wir ein Diskussionsforum zur slavischen Semiotik eröffnen. Zweck und Ziel eines solchen Projekts werfen eine Reihe von Fragen auf, bedürfen des Kommentars und der Erläuterung, was hiermit programmatisch erfolgen soll.

Eine erste zentrale Frage ist sicherlich die nach dem zugrundeliegenden Verständnis von Semiotik, welches direkt oder indirekt das von uns ins Leben gerufene „Jahrbuch zur slavischen Semiotik" (mit-)bestimmt. Von uns aus werden hierbei keinerlei Restriktionen eingeführt - weder soll eine Bevorzugung der ‘theoretischen’ Semiotik noch der ‘angewandten’ Semiotik propagiert werden: Beide Bereiche müssen sich einander ergänzen, will Semiotik überhaupt erfolgreich, um nicht zu sagen: sinnvoll, sein.

Wir selbst favorisieren freilich jene Richtung der Semiotik, die nicht die „Zeichen an sich" zum Gegenstand macht und Semiotik so zu einer sich weitgehend verselbständigenden Disziplin „kürt", sondern die - einhergehend mit zeichentheoretischen Überlegungen - die innerhalb und von einer Kultur generierten Zeichen und Texte in ihrer kultur- oder diskurstypologischen Spezifik und Funktion untersucht.

Mit einem solchen breiten Verständnis von Semiotik soll jedoch keineswegs einer Inflation ’pan-semiotischer’ Arbeiten Tür und Tor geöffnet werden - nicht jede wissenschaftliche Abhandlung, die Begriffe wie ‘Zeichen’, ‘Struktur’ oder ‘Text’ verwendet, weist eine konzeptuell-semiotische Ausrichtung auf, was andererseits bei Arbeiten, die auch ohne solches Begriffsinventar auskommen, durchaus der Fall sein kann. Es handelt sich hier zugegebenermaßen um eine banale oder triviale Feststellung - in der konkreten Redaktionspraxis aber, dessen sind wir uns bewußt, wird dies ganz gewiß immer wieder zu problematischen Entscheidungen, hoffentlich aber nicht zu (sinnlosen) Konflikten und Auseinandersetzungen führen.

Am deutlichsten äußert sich dieses Problem vielleicht bei der jeweils konkreten Entscheidung, mehr oder weniger explizit semiotische Arbeiten in die Bibliographie aufzunehmen, die wir in jedem Jahr zusammenstellen und aktualisieren wollen. Dies kann natürlich nicht ohne die Mitarbeit interessierter und engagierter Kollegen geschehen, die uns solche Informationen zukommen lassen, die „extern" häufig nur mit erheblicher Verzögerung (wenn überhaupt) zugänglich werden. Von der konkreten Mitarbeit möglichst vieler einschlägig arbeitender Kollegen hängt somit die Qualität des wissenschaftlichen Austausches, hängt auch die Qualität von Znakolog ab. In diesem Sinne fordern wir alle Interessierten zur aktiven Mitarbeit auf - selbstredend nicht nur zur Teilnahme an der bibliographischen Arbeit.

Die Bezeichnung ‘Diskussionsforum’ dürfte dabei eigentlich von allein erhellen, daß es nicht unser Interesse ist, eine abgeschlossene, einheitliche Konzeption (womöglich mit dazugehöriger monolitischer oder auch nur favorisierter Terminologie) vorzulegen; die von den jeweiligen Autoren beigesteuerten Beiträge sind nicht Mosaiksteine einer (ab-)geschlossenen redaktionellen Konzeption - Znakolog will ein im Prinzip offenes Publikationsorgan sein, das die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Diskussion ebenso wie zum kulturellen Austausch bietet. Letzteres, kulturellen Austausch, wollen wir in den kommenden Jahren auch dadurch zu erreichen versuchen, indem wir nicht nur wissenschaftliche Texte zur Semiotik publizieren, sondern (in begrenztem Maße) auch kultur- und diskurstypische Texte aus slavischen Ländern bzw. solche Texte, in denen sich Probleme der Kultur-Übersetzung, der Diskurs-Vermischung und der unterschiedlichen Repertoires und Bedeutungen der jeweiligen Kollektiv-Symbolik widerspiegeln - diese Texte stehen ihrerseits wiederum semiotischen (kulturologischen, diskursanalytischen u.a.) Untersuchungen offen.

Eine weitere Frage ist ohne Zweifel die nach der Existenzberechtigung eines Forums spezifisch für slavische Semiotik - gibt es überhaupt eine spezifisch slavische Semiotik, wenn ja, was soll dies sein? Und selbst wenn man hypothetisch annimmt, daß es im slavischen Kulturbereich eigenständige Ansätze semiotischer Untersuchungen gibt, ist es dann gerechtfertigt, diese verschiedenen Bestrebungen unter dem Etikett ‘slavisch’ zu vereinigen? Ob es also die slavische Semiotik bzw. eine bestimmte slavische Variante der Semiotik (oder mehrere solcher Varianten) gibt, soll nicht unhinterfragbarer Ausgangspunkt unserer Bestrebungen sein, sondern vielmehr Arbeitshypothese und mögliches rekurrentes Thema. Denn trotz zahlreicher pionierhafter Versuche und umfangreicher Bemühungen ist letztendlich so wenig - zu wenig - über semiotische Arbeit in den slavischen Ländern bekannt, als daß man sich hier ein zuverlässiges Urteil erlauben dürfte. Nicht zuletzt liegt dies sicherlich an (immer noch) vorherrschenden Sprachbarrieren, was im Rahmen semiotischer Beschäftigungen schon allein die Notwendigkeit einer besonderen Aufmerksamkeit transparent macht - dies ist auch der Grund, warum wir uns als Publikationssprachen ausschließlich auf Deutsch und Englisch beschränken wollen. Denn die Möglichkeit der Kenntnisnahme ist erst einmal eine notwendige Voraussetzung, den Stellenwert der slavischen Semiotik zu erkennen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Konzeptionen (oder deren Rezeption) festzustellen, die Frage nach der Spezifik slavischer Semiotik zu beantworten u.a.m.

Bei der bisherigen Beschäftigung mit slavischer Semiotik ist ein merkwürdiges Paradoxon zu beobachten. Denn die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse aus slavischen Ländern ist immer eine kultur-vermittelnde Arbeit, die an das Engagement einzelner Personen und Institutionen gebunden ist, die - gewollt oder ungewollt - immer auch eigenes Schicksal und eigene Interessen, und seien es ‘rein wissenschaftliche’ Interessen, einbringen oder explizit vertreten. Auch deshalb wissen wir vergleichsweise viel über die semiotischen ‘Zentren’ im slavischen Bereich, entsprechend weniger über die semiotische ‘Peripherie’; so verfügen wir über relativ gute Informationen über den Prager Strukturalismus, wissen aber entscheidend weniger über Semiotik in Brno, Nitra oder Bratislava; wir verbinden mit sowjetischer Semiotik häufig mehr oder weniger direkt die bahnbrechenden Arbeiten der sog. Moskauer und Tartuer Schule, doch was wissen wir über Semiotik in Erevan, L’vov und Minsk? Die hier angeführten Beispiele sind willkürlich, doch sie ließen sich fortsetzen.

Aufgrund dieses Mangels ist es ein Ziel von Znakolog, außer den aktuellen bibliographischen Informationen auch konzeptuelle und historische Überblicke über semiotische Aktivitäten in den slavischen Ländern zu bieten - Aktivitäten nicht nur von ganzen Schulen, sondern auch von formellen und informellen Gruppen, von einmalig sich treffenden Arbeitskreisen (Symposien etc.) ebenso wie von ständigen Kolloquien u.a.m. vorzustellen.

Mit ‘slavischer Semiotik’ meinen wir jedoch nicht nur Semiotik in den slavischen Ländern, über die Informationen verfügbar gemacht werden sollen - Znakolog soll nicht nur ein Publikationsorgan für semiotische Texte aus den slavischen Ländern sein. Solche ‘intrakulturellen’ Beschränkungen wollen wir vielmehr zu überwinden versuchen: Angestrebt wird nicht nur Information über slavische Semiotik, sondern auch eine Diskussion der und mit der slavischen Semiotik, d.h. auch eine Auseinandersetzung mit ihr. Von slavischer Sicht aus sind hierzu sicherlich Arbeiten, die sich (auch) mit nicht-slavischem Material beschäftigen, besonders geeignet.

Um die zur Auseinandersetzung notwendige ‘Poly-Perspektivität’ zu erreichen, werden deshalb auch semiotische Arbeiten von Slavisten außerhalb der slavischen Länder publiziert, die hiermit in gleicher Weise wie die Semiotiker aus slavischen Ländern aufgerufen seien, über ihre Aktivitäten in Znakolog zu berichten. Ganz besonders willkommen sind uns aber gerade auch Arbeiten von nicht-slavistischen Semiotikern, die sich mit slavischen theoretischen Arbeiten oder mit slavischem Material auseinandersetzen - ‘Dialog’ bzw. ‘Polylog’ soll nicht nur eine ‘Deckmantel’-Metapher, sondern ein ernst gemeintes Programm sein.

Der Anspruch (bzw. die Hoffnung) auf Dialog betrifft selbstverständlich auch eine von uns angestrebte Interdisziplinarität. Linguistisch, philosophisch oder sonstwie einzelwissenschaftlich basierte Semiotik ist wichtig - doch solche intradisziplinär-methodologischen Primate dürfen nie den Anspruch eines methodologischen Imperialismus verfolgen. Eine Möglichkeit - doch sicherlich nicht die einzige - scheint uns eine Annäherung von Semiotik und Systemtheorie zu sein. Es soll für systemisches Denken geworben werden: Eine Verbindung von Semiotik und Synergetik - bei der es nicht um einfache Begriffs-Anleihen gehen soll - verspricht für beide Wissenschaftsbereiche eine fruchtbare Ergänzung. Auch eine Anlehnung an empirisch arbeitende Wissenschaftsbereiche wie Psychologie, Neuropsychologie u.a. halten wir für sinnvoll. Mit dieser Ausrichtung hoffen wir nicht zuletzt auch, der Semiotik insgesamt dienlich zu sein und weiterführende Impulse bieten zu können.

Michael Fleischer, Peter Grzybek


Zurück zum Seitenbeginn

Zur Znakolog-Homepage